"Private Überschuldung wird noch immer tabuisiert"

Das Thema Überschuldung ist mit vielen Vorurteilen belastet. Dabei ist es selten das Konsumverhalten, das uns in finanzielle Schieflage bringt. Sally Peters, Leiterin des Instituts für Finanzdienstleistungen, räumt mit Vorurteilen auf und zeigt Wege aus der Krise.

Während ihrer Arbeit für die Schuldenberatung hat Sally Peters viele Leidensgeschichten und Dramen gehört. Sie hat es vor allem interessiert, genauer zu erfahren, wie finanzielle Schwierigkeiten entstehen. Und natürlich ging es auch darum, wie man Ratsuchende dabei unterstützen kann, ihre finanzielle Krise zu bewältigen. Es war für Sally nur logisch, dass sie auch ihre Doktorarbeit zu diesem Thema geschrieben hat und heute noch dazu forscht. Im Interview mit den finanz-heldinnen und Jessica Schwarzer erklärt Sally, warum immer mehr Frauen in die Überschuldung rutschen und räumt mit vielen Vorurteilen auf.

Jessica: Wie groß ist das Problem Verschuldung in Deutschland?

Sally: Eine Verschuldung ist nicht per se problematisch und ist, sofern die Schuld beglichen wird, ein normales und vor allem erwünschtes wirtschaftliches Verhalten. Problematisch wird es, wenn Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllt werden können.

Aber was, wenn wir überschuldet sind?

In Deutschland waren 2022 circa 5,88 Millionen Personen – also rund jede achte erwachsene Person – überschuldet. Das entspricht 2,94 Millionen Haushalten. Die Überschuldungsquote liegt also bei 8,48 Prozent. Das Problem: Die Schuldnerberatung erreicht schätzungsweise nur eine von zehn betroffenen Personen. Das Thema der privaten Überschuldung wird noch immer tabuisiert. Dabei ist Überschuldung eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die mit massiven Belastungen für Betroffene verbunden ist. Schulden belasten Gesundheit, die Beziehung in der Familie oder auch den Job.

Ab wann gelte ich überhaupt als überschuldet?

Bis heute gibt es keine verbindliche Definition für den Begriff. Grundsätzlich kann man sagen: Ich gelte als überschuldet, wenn ich über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage bin, meinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.

Wie viele Frauen sind überschuldet?

Laut dem Creditreform SchuldnerAtlas stehen 2,3 Millionen überschuldeten Frauen 3,59 Millionen überschuldete Männer gegenüber. Vor allem Alleinerziehende sind überschuldet, laut iff-Überschuldungsreport machen sie 14,15 Prozent aller überschuldeten Personen aus, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur bei 3 Prozent liegt. Ca. 85 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. Frauen sind dabei in der Regel häufiger bereit, professionelle Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, das liegt u.a. am traditionellen Geschlechterverständnis.

Woran liegt das?

Unterschiedliche Überschuldungsquoten bei Männern und Frauen sind seit Jahren auf ähnliche Faktoren zurückzuführen. Männer sind in den meisten Haushalten noch die Hauptverdiener und das grundsätzliche Gehaltsgefälle zwischen Frauen und Männern führt einigen Studien zufolge auch zu einer höheren Risikobereitschaft der Männer. Gleichzeitig übernehmen Frauen aber zunehmend die Schuldenlast oder die Einkommenslast als Alleinerziehende. Ein geringes Einkommen beziehungsweise die alleinige Sorge- und Finanzverantwortung für Kinder machen wiederum anfälliger für finanzielle Probleme.

Welche Hauptauslöser siehst Du für Überschuldung?

Auf alle Fälle bezogen konnten wir in unserem jährlichen Überschuldungsreport feststellen, dass Hauptauslöser Arbeitslosigkeit (19,7 Prozent), Einkommensarmut (10,5 Prozent), Krankheit (12,9 Prozent), Scheidung und Trennung (10,2 Prozent), Konsumverhalten (10,5 Prozent) und gescheiterte Selbstständigkeit (8,4 Prozent) sind. Besonders Menschen mit wenig Einkommen sind gefährdet, sich zu überschulden. Das liegt daran, dass es ihnen besonders schwerfällt, auf unerwartete Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, Trennung oder gesundheitliche Probleme zu reagieren.

Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Die Ursachen sind zwar grundsätzlich vielfältig, dennoch lassen sich geschlechtsspezifische Besonderheiten feststellen. In 15,6 Prozent der weiblichen Fälle sind Trennung, Scheidung oder Tod des Partners beziehungsweise der Partnerin Hauptauslöser für eine Überschuldung von Frauen gewesen. Das ist besonders auffällig, da dies nur in 10,1 Prozent der männlichen Beratungsfälle vorkam. Bei Alleinerziehenden sind die Zahlen noch sehr viel höher. Bei alleinerziehenden Frau mit einem Kind liegt der Wert bereits bei 21,1 Prozent und steigt mit zunehmender Kinderzahl.

Wahrscheinlich trifft es vor allem Alleinerziehende?

In der Bewältigung ihres Alltags sind sie besonders herausgefordert, ja. Und mit steigender Anzahl der Kinder nimmt das Risiko einer Überschuldung weiter zu. Der Anteil Alleinerziehender in der Schuldnerberatung ist 2,7-mal so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Bei mehr als zwei Kindern ergibt sich sogar ein vierfach höheres Risiko als im Durchschnitt der Bevölkerung.

Apropos Beratung, wie läuft das ab?

Im Falle einer Überschuldung kann die Schuldnerberatung dabei unterstützen, finanzielle Vereinbarungen mit den Gläubigern zu treffen. Ebenso unterstützen sie bei der Existenzsicherung sowie dabei mit den Folgen der finanziellen Krise umzugehen. Viele Menschen belastet so eine Krise sozial und psychisch.

Wann sollte oder sogar muss ich ein solches Angebot in Anspruch nehmen?

Eine nicht gezahlte Rechnung muss nicht sofort in die Schuldnerberatung führen. Ein Haushaltsplan kann dabei helfen, zu schauen, woran es gelegen hat. Kommt es immer wieder zu Zahlungsschwierigkeiten, kann professionelle Unterstützung dabei helfen, das Problem langfristig in den Griff zu bekommen. Erhält man zum Beispiel Mahn- und Vollstreckungsbescheid, hat Probleme mit dem Konto, weiß nicht genau, wo man Schulden hat oder es ist sogar unklar, ob die nächste Miete oder Stromrechnung gezahlt werden kann, sollte schnellstmöglich Kontakt mit der nächsten Beratungsstelle aufgenommen werden.

Wie „einfach“ kommt man aus der Überschuldung wieder raus?

Passende Podcastfolge

Es kommt immer auf den Einzelfall an. Es kann sich lohnen, frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, die einen ausführlich aufklären und erläutern, was zu tun ist. Die Beratung ist vertraulich und niemand erfährt, dass man da war.

Schulden sind häufig mit Scham behaftet. Warum ist es trotzdem so wichtig, darüber zu sprechen?

Darüber sprechen entlastet viele Menschen. Man muss es nicht jeder X-beliebigen Person erzählen. Es reicht oft schon eine nahestehende Person. Diese kann einen zum Beispiel auch zu einem Beratungsgespräch begleiten, wenn man das zunächst nicht alleine wahrnehmen möchte. Finanzielle Themen betreffen uns alle und viel häufiger als wir denken, haben auch Personen in unserem Umfeld schon mal Erfahrungen mit finanziellen Problemen gemacht. Wenn man das Thema nicht mit jemand im privaten Umfeld teilen möchte, kann man auch nur mit jemandem aus einer Beratungsstelle sprechen. Mit einer Beratungsstelle über die Situation sprechen, kann oft sehr hilfreich sein, um neue Perspektiven und Lösungsideen zu gewinnen. Das Thema Schulden ist sehr komplex und kompliziert, man muss und kann da gar nicht alles wissen.

Warum engagierst Du Dich so vielfältig in diesem Bereich?

Überschuldung ist noch viel zu häufig normativ belegt. Nur wenigen ist bewusst, dass der Hauptauslöser für Überschuldung nicht in der Mehrheit das Konsumverhalten ist, sondern viel öfter in Problemen wie Arbeitslosigkeit, gesundheitlichen Problemen oder Scheidung und Trennung liegt. Viele Menschen schämen sich daher, sich Hilfe zu suchen. Sie haben Angst vor Moralpredigten. Es wird leider noch immer viel zu wenig über finanzielle Themen gesprochen. Es ist wichtig über Geld zu sprechen und auch darüber zu sprechen, wenn es mal schiefgeht.

Danke für das Interview!

Weiterführende Infos und Beratungsangebote:

Einige gemeinnützige Träger und Wohlfahrtsverbände bieten eine Online-Beratung in Form von E-Mail-Beratung oder Chats an. Damit lassen sich lange Wartezeiten und weite Anfahrtswege vermeiden und Schwellenängste überwinden. Die aufgeführten Angebote sind anonym, kostenfrei und datensicher.

Dr. Sally Peters
Leiterin des Instituts für Finanzdienstleistungen

Dr. Sally Peters ist promovierte Sozialpädagogin und hat sieben Jahre in der Schuldnerberatung gearbeitet. Mittlerweile leitet sie das Institut für Finanzdienstleistungen, ein unabhängiges Forschungsinstitut in Hamburg. Einer der Schwerpunkte des Instituts ist das Thema Überschuldung. Auf Konferenzen und bei Veranstaltungen macht Peters auf das Thema aufmerksam. Zudem forscht sie auf diesem Gebiet, weil ihrer Meinung nach viel zu wenig passieren.

Jessica Schwarzer
Journalistin und Börsenexpertin

Jessica Schwarzer Journalistin und Börsenexpertin Jessica Schwarzer ist Autorin für das finanz-heldinnen Magazin und eine der renommiertesten Finanzjournalistinnen Deutschlands. Ihre Leidenschaft für die Börse hat die gebürtige Düsseldorferin zum Beruf gemacht. Die langjährige Chefkorrespondentin und Börsenexpertin des Handelsblatts (2008 bis 2018) arbeitet heute selbstständig als Journalistin und Moderatorin. Sie hat mehrere Bücher über die Psychologie von Anlegern und Investmentstrategien geschrieben. Die deutsche Aktienkultur ist ihr eine Herzensangelegenheit, für die sie sich auch mit Vorträgen und Seminaren stark macht. Darüber hinaus schreibt sie eine wöchentliche Kolumne bei onvista.de, einem der meistbesuchten Finanzportale in Deutschland.